Im ersten Teil „Vegan in der Recovery: Eine Anleitung“ hast du bereits einige allgemeine Tipps zur Unterstützung in deiner Recovery bekommen. Entscheidende Orientierungspunkte zur Ernährung auf deinen Weg zurück in ein befreites und genussvolles Leben konntest du im zweiten Teil „Vegan in der Recovery: Ernährung (1)“ kennen lernen. Im Folgenden knüpfe ich nahtlos an, unter anderem mit Tipps zu Portionsgrößen, dem Verzehr von Obst und Gemüse sowie Empfehlungen zu Nahrungsergänzungsmitteln in der Recovery.
Medizinischer Disclaimer: Essstörungen sind multifaktorielle psychische Erkrankungen, die von vielen Faktoren beeinflusst werden. Im folgendem Artikel liegt der Fokus auf Ernährung und Gewicht. Zwei entscheidende, aber nicht ausschließliche Einflussgrößen. Es sind allgemeine Ratschläge, die keine medizinische Beratung oder Behandlung ersetzen können.
Ernährungstipps
1.Obst und Gemüse
Ich bin selber ein absoluter Gemüsefan. Und im Sommer sind frische Früchte eine ideale Erfrischung. Obst und Gemüse enthalten jede Menge Mikronährstoffe Im Durchschnitt aber wenig Energie. Genau die braucht dein Körper derzeit, um endlich regenerieren zu können.
Obst und Gemüse sind durch das enthaltene Wasser sehr voluminös. Diese Volumen füllt deinen Magen, sodass weniger Platz für energiedichte Lebensmittel ist.
Es geht nicht darum, frisches Obst und Gemüse zu verteufeln. Wie mehrfach erwähnt, muss sich dein Magen aber erst wieder an Nahrung und Volumen gewöhnen. Konzentriere dich zu Beginn deiner Recovery auf energiedichte Lebensmittel. Entscheidens ist zudem, dass du dich nicht selber sabotierst, indem du einen großen Teller Brokkoli als Mahlzeit einordnest.
Dennoch gibt es einige Möglichkeiten von den gesundheitlichen und kulinarischen Vorteilen des geliebten Grünzeugs in der Recovery zu profitieren:
Flüssig: Egal ob als Smoothie oder klassischer Saft. Für zwischendurch ist Obst und Gemüse in flüssiger Form leicht verdaulich und ideal um den Durst (nicht den Hunger!) zu stillen.
Leicht: Nein es geht nicht um Kalorien! Es gibt Gemüsesorten die dein Magen leicht verarbeiten kann. Und es gibt einiges an Grünzeug, dass sich nach kurzer Zeit mit Magengrummeln und Blähungen in Erinnerung bringt. Gut verträglich sind, mit persönlichen Nuancen, beispielsweise Möhren, Pastinaken, Kürbis, Zucchini, Aubergine, Fenchel, Chicorée, Steckrübe und Erbsen.
Bei Zwiebeln, Kohl und roher Paprika solltest du anfangs etwas zurückhaltender sein.
Mit Öl: Fettlösliche Vitamine sind wie der Name nahelegt ohne Fett nutzlos. Satt dir lieblos ein paar Gurkenscheiben auf den Tellerrand zu legen, entwirfst du einen erfrischenden Gurkensalat mit aromatischen Olivenöl. Aus Cashewkernen kannst du eine cremige „Sahnesoße“ für deine Möhrchen zaubern. Oder du nutzt eines der unzähligen Creme fraiche Ersatzprodukte aus dem Kühlregal. Die meisten Gemüsesorten und auch einige Obstsorten lassen sich hervorragend knusprig frittiert genießen.
Trocknen: Trockenobst ist ein idealer Begleiter für die Uni oder die Arbeit. In der Tüte oder einer kleinen Dose, kannst du Rosinen, Feigen und Datteln wunderbar zwischendurch snacken ohne dir die Finger schmutzig zu machen. Auch im Müsli sorgen sie für Abwechslung und liebliche Süße.
2. Supplements
Als Veganer*in ist ein Vitamin B 12 Präparat obligatorisch. Hinzu kommen weitere kritische Nährstoffe, auf die du bei einer rein pflanzlichen Ernährung besonders achten musst. Neben Eisen, Zink, Iod, Selen und Kalzium sind das vor allem Vitamin D und Omega-3.
Viele Menschen stehen Nahrungsergänzungsmittel kritisch gegenüber. Meiner Meinung nach zu Unrecht. Gut dosierte Vitamin- und Nährstoffpräparate sind eine alltagsfreundliche Möglichkeit deine Nährstoffversorgung sicher zu stellen. Supplemente können natürlich keine ausgewogene Ernährung ersetzen. Aber in schwierigen Phasen beugen sie Mangelzuständen wirksam vor. In so einer schwierigen Phase befindest du dich aktuell.
Zum einem gibt es in deiner Recovery momentan deutlich wichtigere Aufgaben, als die Berechnung, ob dein Mittagessen ausreichend Eisen enthält. Zum anderen hast du derzeit einen erhöhten Bedarf an diversen Makro- und Mikronährstoffen.
Ein gutes Multinährstoffpräparat mit Eisen, Zink, Jod, Selen… unterstützt dich in deiner Recovery. Dazu empfehle ich dir im Weiteren auf eine ausreichende Kalziumversorgung zu achten. Durch die Unterernährung besteht bei dir ein erhöhtes Risiko für Osteoporose. Je nachdem wie lange du bereits mit deiner Essstörung kämpfst, können deine Knochen auch schon geschädigt sein. Kalzium in Kombination mit Vitamin D schützen deine Knochen vor weiteren Abbauprozessen. Vorausgesetzt du isst ausreichend.
Ergänzend kannst du deinen Körper noch durch ein Omega-3 Präparat bzw. EPA/DHA-Mikroalgenöl in seiner Regeneration unterstützen. Für individuelle Empfehlungen zur Dosierung kannst du gerne das Kontaktformular nutzen.
3. Powerfood
Es gibt zahlreiche Lebensmittel, die deinem Körper reichlich Energie liefern ohne deinen Magen unnötig zu überfordern. Greifst du vermehrt auch diese Powerfoods zurück, vermeidest du unangenehmes Völlegefühl und den Zustand der „Dauersättigung“.
Neben Nüssen, Nussmus und Samen sind Avocados und pflanzliche Öle ideale Begleiter für deine Recovery. Ebenso gut sind Fast Food und Süßes. Egal ob eine Pommes, ein Stück Schokoladenkuchen oder eine Packung Nüsse, dein Körper bekommt was er braucht, und du musst dich weniger mit Magendruck und Bauchschmerzen plagen. Der Gedanke, Fast Food oder Süßes zu essen schreckt dich ab? Im Artikel über Orthorexie erfährst du, wie „gesundes Essen“ deine Gesundheit gefährdet und dich letztendlich von der einen Essstörung in eine andere leitet.
4.Upgrade
Wie beim Gemüse beschrieben, gibt es einige Optionen deine Mahlzeiten gehaltvoller und genussvoller zu gestalten, ohne, dass die Masse größer wird.
Die einfachste Variante sind pflanzliche Öle die du zum Anbraten genauso verwenden kannst, wie als Grundlage für (Salat)Soßen. Kartoffeln mit Leinöl, Nudeln Aglio e Olio oder mit Olivenöl angeröstete Brotscheiben sorgen für recoveryfreundliche Genussmomente. Persönlich liebe ich einen guten Schuss Leinöl im meinem Müsli. (Ist natürlich Geschmackssache).
Olivenöl und Co. sind auch die beste Basis für aromatische Soßen. Von Tomaten- bis zur veganen Bratentunke bringen Soßen geschmackliche Vielfalt auf deinen Teller und sorgen dafür, dass Nudeln und Reis besser „runterrutschen“.
Dips in allen Variationen funktionieren ähnlich wie Soßen. Zeitsparend kannst du einfach vegetarische Aufstriche nutzen.
Nüsse und Samen passen nicht nur ins Müsli. Als Highlight in Reiscurrys, im Brot oder als Panade für Tofu sind Walnüsse, Sesam und Co. nährstoffreiche Kompaktpakete. Gemahlene Mandeln und Sesam eignen sich zudem als Parmesan für Aufläufe und Bolognese.
Als Nussmus oder in der amerikanischen Variante der Erdnussbutter, kannst du sie ebenfalls unter etliche Gerichte mischen oder deine Stulle damit bestreichen. Cashewkerne, Sonnenblumenkerne etc. verwandelst du mit einem guten Mixer zeit- und geldsparend in eine sahnige Soßengrundlage.
Mit Kokosmilch zauberst du exotische Currys genauso gut cremige Shakes und sogar vegane Eiskreationen.
5. Zubereitung
Fettphobie ist unter magersüchtigen weit verbreitet. Persönlich hat sich das bei mir durch den ausschließlichen Kauf von Lightprodukten und der panischen Angst vor Soßen und Salatdressings geäußert. Als mir einmal einen Salat mit angebratenen Pfefferlingen serviert wurde, bin ich ernsthaft in Tränen ausgebrochen….
Fette und Öle sind wie mehrfach begründet unglaublich wichtig für deinen Körper. Dazu ist Fett ein optimaler Geschmacksträger.
Nutze deine Zeit in Zukunft für sinnvolleres als das Googlen nach fettfreien Koch- und Backrezepten. Leg dir eine Auswahl guter Pflanzenöle zu und verwende sie vor allem auch.
Kein in Wasser angebratener Tofu. Keine fettfreien Vollkornmuffins. Und Salat ist ohne Dressing so nahrhaft wie die Tageszeitung.
In der Praxis stehst du nach langer Zeit der Abstinenz vor der Herausforderung der richtigen Dosierung. Wie viel Olivenöl brauchst du für dein veganes Hack? Welche Menge Leinöl kommt ins Salatdressing?
Zum Anbraten einer Portion solltest du mindestens 1 Esslöffel rechnen. Fettarme Gerichte wie Tofu benötigen in der Regel mehr. Landet doch einmal zu viel Öl in die Pfanne, verbleibt der Rest sowieso in der Pfanne.
Bei anderen Dingen wie der Soßenzubereitung suchst du dir am besten eine lecker Rezeptvorlage ohne #fettarm, #lowfat, #kalorienarm….
Bei Fertigprodukten wie veganen Schnitzeln findest du in der Regel auf der Rückseite die Zubereitungsempfehlungen. Sei ehrlich zu dir selber!
6. Portionen
Die Kurzform: Es gibt in der Recovery kein zu viel. Du kennst deine Ziele und jede zusätzliche Kartoffel und Nudel bringen dich deinem Ziel näher! Bevor du von 0 auf 100 durchstartest, informiere dich bitte über das Refeeding-Syndrom.
Studien zeigen, dass essgestörte Menschen die Größe ihrer Portionen teilweise deutlich überschätzen.1 Deswegen kann es anfangs hilfreich sein ein paar grobe Maßeinheiten für deine Gerichte zu haben. Hast du 2 oder 3 Wochen lang mit Hilfe einer Waage ein Gefühl fürs Portionieren bekommen, kannst du sie wieder in die hinterste Ecke deines Küchenschrankes verschwinden lassen und nur gelegentliche Stichproben durchführen, um nicht unbemerkt doch wieder zu kleineren Portionen überzugehen. Wiege nicht auf 1 Gramm genau ab. Lass dir nach oben immer mindestens 5 Gramm Spielraum. Nach unten natürlich nicht!
Sind Zubereitungsinformationen auf Produktverpackungen eine gute Hilfestellung, ignoriere die Portionsvorschläge. Kein Mensch wird von einer 30 g Müsliportion satt. Auch Stilblüten wie ½ Pizza oder 100 g Saft sind Verbraucher*innen Täuschung.
7. Süßes
Für die Seele wie für den Körper sind süße Lebensmittel in der Recovery (und darüber hinaus) optimal. Fakt ist, es fällt leichter 5 Kekse zu essen, als 3 vegane Bratwürstchen. Süße Lebensmittel von Schokolade über Kekse, Kuchen und Weingummis liefern dir schnelle Energie ohne belastendes Völlegefühl. Sportler*innen kennen die Vorteile leicht verdaulicher Kohlenhydrate. Auch beim Denksport, kannst du mit ein paar Schokoladenplätzchen dein Gehirn pushen.
8. Convenience Food
Der Begriff Convenience Food bedeutet nichts anderes als „bequemes essen“. Und genau darum geht es. Fertigprodukte haben (zu Unrecht) einen schlechten Ruf. Zugegen sind Burger für die Mikrowelle und Schnitzel für den Toaster nicht in jedem Fall nahrhaft und lecker. Aber es gibt diverse vegane Fertigprodukte die mittlerweile geschmacklich punkten und dir den Kochalltag wie auch deine Recovery erleichtern.
In den Hochphasen meiner Essstörung habe ich endlose Stunden in der Küche mit Backen und Kochen verbracht. „Natürlich“ habe ich nichts davon selber gegessen. Zurzeit bin ich in der Küche pragmatisch und liebe schnelle und unkomplizierte Gerichte.
Wenig Zeit und gedankliche Ressourcen in die Essenzubereitung zu verschwenden, kann auch in der Recovery hilfreich sein. Durch deinen hohen Energiebedarf, bist du sowieso schon viel mit Essen beschäftigt. Schnell kann der Gedanke triggern, nichts mehr außer essen und schlafen zu machen. Wenn dazu noch mehrere Stunden bei Kochen oder Backen draufgehen, wird das ungute Gefühl unnötig verstärkt.
Mit Fertigprodukten wie veganen Burgern und Schnitzeln, Mischungen für Falafel und Getreidebratlinge, pflanzlichen Fischalternativen, Nudelgerichten oder der klassische Ofenpizza kannst du ohne Anstrengung schmackhafte Abwechslung genießen und nebenbei deinen Speiseplan deutlich erweitern. Zusätzlich werden nicht wenige der genannten Nahrungsmittel auch auf deiner Fear-Food-Liste zu finden sein und dein Bedürfnis nach Kontrolle herausfordern (siehe unten). Lass dich nicht durch pseudowissenschaftlichen Mist über „gefährliche Lebensmittelzusatzstoffe“ verwirren. Etwas Glutamat in deiner veganen Wurst ist nicht nur im Gegensatz zu deiner Essstörung harmlos!
9. Kontrolle
Die Kontrolle über das Essen und den eigenen Körper soll nicht selten das unkontrollierbare Leben ersetzen. Bewaffnet mit Kalorientabellen, Tracking-Apps und (Körper)Waage gilt es den Unwägbarkeiten des Lebens zu trotzen. Der Preis dafür ist der absolute Kontrollverlust. Nicht du, sondern deine Krankheit hat die Kontrolle. Das Ziel ist, ihr die Kontrolle zu entziehen.
Ich weiß, wie schwer es ist, loszulassen und Angst vorm Fallen zu haben. Die Furcht des Unbekannten und vor Neuem ist groß. Aber nur wenn du dich dieser Angst stellst, wirst du dauerhaft frei sein.
„Das Gegenteil von Angst ist nicht Mut, sondern trotz der Angst zu handeln.“
Neben dem Löschen deiner Tracking Apps und den maximal sporadischen Einsatz der Küchenwaage, ist der nächste Schritt, Vertrauen zu anderen Menschen neu aufzubauen.
Lass dich von Freunden, Familie etc. bekochen. Iss wieder Gerichte, deren Inhaltsstoffe du nicht kontrollieren kannst (vegan sollten sie selbstverständlich trotzdem sein).
Bestell dir Essen vom Lieferdienst, ohne vorher dessen Nährwerte nachzuschauen.
Eine weitere Herausforderung ist auswärts zu essen. Egal ob du dich von Freunden oder der Familie dabei unterstützen lassen willst, oder zunächst alleine in ein Café gehst. Für den Anfang, kannst du mit einem kleinen Snack einsteigen oder einen leckeren veganen Cappuccino mit Hafermilch probieren. Die nächste Stufe ist eine komplette Mahlzeit. Und wenn du noch Hunger hast, auch ein schönes Dessert.
In einem Restaurant essen zu gehen oder dich von Freunden bekochen zu lassen, hilft dir ein gutes Stück weiter auf deinen Weg zur Genesung und zurück in ein lebenswertes Leben. Du gibst nicht nur ein Stück der Kontrolle über dein Essen ab, sondern durchbrichst deine Essrituale und festgelegten Regeln. Öffnest dich zugleich für Neues. Soziale Teilhabe und Gemeinschaft vertreiben die Isolation deiner Essstörung.
10. Look at yourself
Keine Vergleiche! Weder vergleichst du deinen Körper mit anderen, noch was du isst. Diese goldene Regel gilt natürlich über deine Recovery hinaus. Aber zurzeit ist sie noch wichtiger für dich. Vergleiche werden dich zum Wanken bringen. Ungute Gefühle auslösen und schließlich deine Heilung verhindern.
Wie beschrieben sind in der Recovery die allgemeinen Ernährungsregeln für dich auf dem Kopf gestellt. Mach dir klar, dass deine Genesung eine Ausnahmesituation ist.
11. Angstnahrung
Brot, Eiscreme, Schokolade, Margarine? Was sind deine Angstnahrungsmittel?
Dein Speiseplan ist durch deine Krankheit auf eine kleine Auswahl kalorienarmer Lebensmittel zusammengeschrumpft. Gemüse und eventuell einige Obstsorten, Lightprodukte und Knäckebrot…
Es ist sehr individuell, was jemand noch gegessen hat. Genauso individuell sind die Angstlebensmittel. Aber es gibt einige Kriterien die weit verbreitet sind. Zumeist sind Angstlebensmittel bzw. Fear Foods kalorienreich. Fett, Zucker und Kohlenhydrate werden als Todfeinde auserkoren. Von der Pizza bis zum Müsliriegel…. Du kennst deine Fear Foods am besten.
Jetzt ist der Zeitpunkt deine Komfortzone zu verlassen.
Schokolade ist nicht giftig. Zucker macht dich nicht süchtig und von Fett wirst du nicht über Nacht fett. Lebensmittel heißen Lebensmittel, weil es Mittel zum Leben sind!
Trotzdem kenne ich auch selber den Kampf zwischen Verstand und Emotionen.
Du weißt, dass deine Fear Foods dich nicht umbringen werden, trotzdem spürst du das Unwohlsein. Akzeptiere deine Gefühle. Du darfst dich ängstlich fühlen. Aber wenn du gesund werden willst und dein Leben wieder in Freiheit genießen möchtest, gilt es TROTZ dieser Angst zu handeln!
Rein praktisch wirst du nicht an einem Tag sämtliche Lebensmittelängste auslöschen können. Aber du kannst genau jetzt anfangen.
Food Challenges sind die praktische Konsequenz deiner Angstnahrungsmittel. Wie du in 4 Schritten deine Fear Foods besiegst, erfährst du hier.
„Angst liegt nie in den Dingen selbst, sondern darin, wie man sie betrachtet“ (Anthony de Mello)
12. Zeit
Beim Essen immer als letzte fertig sein. Nur winzige Stücke vom Brötchen abbeißen. Das Essen auf den Teller hin und her schieben. Den Apfel in hauchdünne Scheiben schneiden und schön langsam genießen… Findest du dich in den Beschrieben wieder?
Viele Personen mit einer Essstörung haben ein großes Problem mit dem Zeitmanagement während des Essens. Eine Stunde für ein halbes Brötchen ist keine Seltenheit.
Das extrem langsame Essen und hinauszögern von jedem einzelnen Bissen lässt sich im Kontext der Einschränkungen und des permanenten Hungers leicht erklären.
Isst du wieder normale Mengen, wird dich ein sehr langsames Essenstempo massiv in deiner Recovery behindern. Auch im normalen Alltag ist kaum Zeit, das Frühstück regelmäßig über 2 Stunden auszudehnen. Des Weiteren ist das zögerliche Essen ein klares Zeichen deiner Krankheit. Versuche Schrittweise schneller zu essen. Du darfst dein Essen selbstverständlich auch weiterhin in Ruhe genießen. Sich für seine Mahlzeiten Zeit zu nehmen ist wichtig. Entscheidend ist einmal mehr die Balance. Eine angemessene Zeitspanne für eine durchschnittliche Mahlzeit liegt je nach Umfang zwischen 30 bis 50 Minuten. Am Wochenende und bei besonderen Anlässen darf es auch mehr sein.
Um dein Essenstempo zu steigern, kannst du dir beispielsweise einen Wecker stellen, der dich alle 15 Minuten an deine Zeit erinnert. Oder du isst mit Freunden/Familie und orientierst dich an deren Essenstempo.
13. Geschmack
Essen muss gut schmecken. Keine Frage. Oder?
Es gibt Personen mit einer Essstörung die ihre Mahlzeiten bewusst ungenießbar machen. Mit extrem viel Salz oder anderen Zutaten überwürzen sie ihr Essen, um nicht so viel essen zu wollen.
Ich bin ein Fan von Gewürzen und liebe Sojasauce. Gewürze sind eine hervorragende Möglichkeit Gerichte noch schmackhafter zu gestalten. Es kommt auf die richtige Dosis an. Weder ein halber Salzstreuer auf ein paar Löffeln Reis, noch der komplette Verzicht auf Salz und andere Gewürze ist angemessen. Würze dein Essen individuell mit deinen Lieblingszutaten. Nutze die verwendeten Kräuter aber nur um den Geschmack der Nahrungsmittel zu unterstreichen und nicht, um dir selber den Appetit zu verderben.
Nicht jede deiner Mahlzeiten muss übrigens deinen Gaumen in vollständiger Ektase verwandeln. Auch durchschnittliche leckeres Essen ist wichtig. Probierst du etwas Neues aus, bist aber nach den ersten Bissen vom Geschmack enttäuscht, ist es kein Weltuntergang. Du kannst dich einfach auf die nächste Mahlzeit freuen, die hoffentlich wieder besser schmeckt. Du bist nicht mehr auf 1 oder zwei Mahlzeiten am Tag beschränkt, sodass es egal ist, wenn etwas ausnahmsweise nicht phänomenal gut schmeckt.
14. Rituale
Jeder Mensch hat Gewohnheiten. Die Tageszeitung zum Frühstück. Der Kaffee um 9 Uhr. Um 20 Uhr die Tagesschau ansehen… In einer Essstörung verwandeln sich die Gewohnheiten aber in ein tagesfüllendes Vollzeitprogramm. Oftmals wird der gesamte Tag bereits am Vorabend akribisch durchgeplant. Vom Weckerklingeln bis zur Abendgymnastik sind spontane Zwischenfälle die den straffen Zeitplan durcheinanderbringen eine Katastrophe. Besonders rund um das Essen und bei der Bewegung sind zwanghafte Rituale weit verbreitet.
Du kennst dich selber am besten. Überlege dir, wo Rituale in deinem Leben noch eine Rolle spielen.
Ist es eine bestimmte Abfolge beim Essen? Die Nutzung der gleichen Geschirrteile? Festgelegte Bewegungsabläufe oder ganze Sportprogramme? Schreibe dir sämtliche Rituale rund um deine Essstörung auf. Überlege dir für jedes einzelne wie du den starren Ablauf durchbrechen kannst.
Alles auf einmal zu ändern, kann überfordern sein. Versuche 1 oder 2 Rituale pro Tag umzugestalten. Nutze zum Beispiel andere Schüsseln. Ändere Essenzeiten und Reihenfolgen. Triff dich mit Freunden zu deiner üblichen Trainingszeit… Oftmals reicht es bereits, einige Kleinigkeiten zu verändern, um aus den starren Abläufen und den erbarmungslosen Kontrollzwang auszusteigen.
Hast du Angst, deine Rituale zu durchbrechen? Mach es wie bei deinen Angstnahrungsmitteln. Die schrittweise Anleitung findest du hier. Anstelle deiner Fear Foods schreibst du eine Liste mit deinen Ritualen auf. Anschließend ordnest du sie nach Herausforderungsgrad. Notiere welche Gedanken dich daran hindern, dein Ritual aufzugeben. Welche rationalen Argumente kannst du der Essstörungsstimme entgegensetzen? Vor größeren Challenges schreibst du einen Ablaufplan der exakt festlegt, wie du handeln kannst.
Zweifle nicht an dir, wenn es anfangs nicht funktioniert. Bereits „normale“ Gewohnheiten sind überaus hartnäckig. Zwanghafte Rituale sind nochmals eine höhere Liga. Mit Durchhaltevermögen und freundlichen Support, wirst du schrittweise wieder mehr Spontanität und Freiheit genießen können.
Leben hat Gewicht
Vegan in der Recovery: Schnell zunehmen?
Dein Ziel ist klar: Raus aus der Essstörung. Dafür gibt es auf Seiten der Ernährung zwei entscheidende Faktoren.
- Sämtliche Einschränkungen des Essens fallen lassen und dem Körper die Nahrung geben, die er braucht.
- Du wirst im Untergewicht kein „normales“ Leben führen können. Wie bereits erklärt, gibt es biologische Faktoren die durch ein zu niedriges Gewicht unausweichlich zu essgestörten Verhalten führen. Von den massiven Schäden an deinen Körper ganz zu schweigen. Aber auch im offiziellen „Normalgewicht“ kann eine Gewichtszunahme nötig sein, wenn dein Körper immer noch nicht in seinen genetisch festgelegten optimalen Gewichtsbereich ist.
Die ersten Kilos zeigen sich relativ schnell auf der Waage. Schnell entsteht die Angst, dass es so rasant weitergeht und du ungebremst mehrere Kilo pro Woche zunehmen wirst….
Zunächst entsorgst du am besten deine Waage. Lass dich nicht weiter von Zahlen versklaven. Ob du dein individuelles Idealgewicht erreicht hast, merkst du auch ohne Waage: Du musst nicht mehr ständig an Essen denken, hast deine Periode wieder, deine Haare fallen nicht mehr aus, deine Haut wird wieder elastisch, du frierst nicht mehr ständig, hast Energie, kannst wieder Lachen und Weinen und fühlst dich nicht mehr von Kleinigkeiten überfordert.
Die schnelle Gewichtszunahme zu Beginn ist eine Täuschung. Die ersten Kilos sind hauptsächlich Wassereinlagerungen und Darminhalt. Bereits nach kurzer Zeit wird es immer schwieriger zuzunehmen. Gewichtszunahme soll schwierig sein? Ja! Entscheidend sind 2 Faktoren.
Erstens wird dein Körper nicht mehr auf den Überlebensmodus setzen müssen. Statt verzweifelt die wenig noch zugeführte Energie in die Funktion der wichtigsten Organe zu stecken und dabei alles andere auf ein Minimum zu reduzieren, hat er wieder ausreichend Kapazitäten, um alle Bereiche zu versorgen. Konkret spürst du einen deutlichen Energieschub. Deine Bewegungen werden wieder dynamischer, du kannst wieder Lachen und deine Haare wachsen wieder schneller. All das braucht Energie.
Der zweite Faktor ist wissenschaftlich noch nicht einwandfrei aufgeklärt. Das Zauberwort heißt „Hypermetabolismus“. Die Bezeichnung „erhöhter Stoffwechsel“ ist dir vermutlich geläufiger. Bei einem hypermetabolischen Zustand verbrennt dein Körper extrem viel Energie. Der Auslöser für den Anstieg der Stoffwechselrate ist oftmals der Versuch deines Körpers Schäden zu reparieren. Hypermetabolismus tritt damit zum Beispiel als Folge von bei starken Verbrennungen, Infektionen, Operationen, Knochenbrüchen… oder langen Hungerphasen auf.
In der Praxis brauchst du deutlich mehr Kalorien um Gewicht zuzunehmen als erwartet. Im „Normalfall“ werden für 1 Kilogramm Gewichtszunahme 6000 bis 7000 Kalorien benötigt. Bei dir kann sich der Bedarf auf 7000 bis 10.000 steigern. Zusätzlich!
Bevor du von 0 auf 100 durchstartest informiere dich unbedingt über das Refeeding-Syndrom.
Forscher*innen vermuten, dass ein Großteil der aufgenommenen Energie in Wärme verwandelt wird. Besonders in der Nacht macht sich die gesteigerte Stoffwechselrate durch Schwitzen bemerkbar. Bei gesunden Menschen senkt der Körper automatisch über Nacht die Körpertemperatur. Bist du in der Recovery, bleibt deine Körpertemperatur auch nachts erhöht. Du schwitzt. Bis zu 30 Prozent der Zugeführten Energie steckt dein Körper in die Wärmeproduktion. Bei gesunden Personen sind es „nur“ 14 bis 16 Prozent.2
Zudem nimmt dein Körper besonders bei größeren Nahrungsmengen wie zum Beispiel beim Extremhunger, nur einen Teil der Kalorien auf. Der Rest wird ungenutzt ausgeschieden.
Beachte, dass es bei den angegebenen Zahlen nur um deinen zusätzlichen Grundbedarf geht. Die Energie, die du für deine Alltagsbewegung benötigst, musst du obendrauf rechnen.
Im Fazit darfst/musst du verdammt viel Essen!
Nach der Recovery
Wieder einschränken?
Überlegst du dir bereits, wie viel du nach deiner Genesung noch essen darfst? Welche Lebensmittel du aus deinem Alltag verbannen musst, um dein Gewicht zu halten? Wie oft kannst du dir die vegane Schokolade noch erlauben?
Stopp! Natürlich ist der Gedanke an die Zeit nach der Recovery präsent. Und ich kenne die Angst, sich anschließend wieder Einschränken zu müssen. Die Panik vor erneuter Einschränkung war bei mir ein Hauptfaktor für etliche Rückfälle.
An dieser Stelle möchte ich dich beruhigen und warnen.
Zunächst wirst du nicht automatisch geheilt sein, wenn du dein „Normalgewicht“ erreicht hast. Leider sind Essstörungen sehr hartnäckig und es kann Monate oder Jahre dauern bis du spürst, dass alles wieder ok ist. Klar ist aber auch, dass es durch eine Gewichtsnormalisierung viele positive Verbesserungen in deinem Leben und Denken geben wird.3
Wichtig ist, dass du dich nach deiner Gewichtszunahme nicht erneut einschränkst und eine Gewichtsabnahme anstrebst.4
Vertraue deinen Körper
Hats du in der Recovery gelernt, wieder auf deinen Körper zu hören, wird sich dein Essverhalten automatisch an die Bedürfnisse deines Körpers anpassen. Stichwort: Intuitive Ernährung.
Statt nach einem vorgegebenen Plan oder getriggert durch den Extremhunger, wirst du durch die natürlichen Hunger- und Sättigungssignale deines Organismus angeleitet.
Du wirst intuitiv wissen ob du Hunger hast, wie viel und auf was. Deinen Kopf kannst du dabei praktisch ausschalten. Lässt du diese natürliche Kontrolle zu, wirst du auch in Zukunft nicht verzichten müssen. Lebensmitteleinschränkungen entstehen alleine in deinem Kopf.
Natürliche Regulation
Zuletzt solltest du auf der biologischen Ebene nicht den Energiebedarf deines Körpers unterschätzen. Auch wenn ein Haufen Expert*innen (hauptsächlich in Verbindung mit dem Verkauf von Light Produkten, Fitnessprogrammen und Diät-Shakes) das Gegenteil verbreiten.
Dein Körper passt sich deiner Energiezufuhr in weiten Bereichen an. Isst du zu wenig, sinkt deine Stoffwechselrate. Du trainierst deinen Körper praktisch darauf, mit besonders wenig Energie auszukommen.
Nimmst du mehr Kalorien auf als dein Körper eigentlich benötigt, erhöht sich dein Stoffwechsel und ein erheblicher Teil der überschüssigen Energie wird zu Wärmeproduktion verbrannt. Isst du längere Zeit im Kalorienüberschuss, wird sich auch dein Gewicht erhöhen.
Die Pointe ist aber, dass dein Körper dir zuvor Signale sendet, weniger zu essen.
Deine Aufgaben sind zuhören und vertrauen.
Zusammenfassung
Fazit
Es gibt noch viele weitere Tipps die dir deine Recovery erleichtern. Entscheidens ist aber nicht, alles über deine Essstörung zu wissen und so viel wie möglich über die Genesung zu lesen, sondern dein Handeln.
Ich kenne die Angst vor den ersten Schritten. Und auch die Folgenden werden immer wieder schwierig sein. Der lange und steinige Weg aus der Krankheit ist abschreckend und oft werden Zweifel und Rückschläge neue Steine auf diesen Weg werfen. Aber es wird auch immer mehr unglaublich schöne Momente geben. Und du darfst deine Recovery genießen.
Die Genesung ist ein Prozess. Dein Prozess. Bist du bereit für die ersten Schritte?
Gerne unterstütze ich dich auf deiner Reise. Ich kenne nicht nur die zahlreichen Ängste und Zweifel, ich habe sie auch selber erlebt. Gemeinsam räumen wir die Steine aus dem Weg, damit du endlich das Leben leben kannst, was du verdient hast.
„Mut steht am Anfang des Handelns. Glück am Ende“ (Demokrit)