Orthorexie kurz erklärt
Orthorexie beschreibt ein gestörtes Essverhalten, bei dem sich Betroffene obsessiv mit ihrer Ernährung beschäftigen. In der Überzeugung durch die Auswahl „gesunder“ Lebensmittel sich vor Krankheiten schützen zu können und die eigene Leistung zu optimieren, führen sie eine Vielzahl an strikten Essensregeln ein. Mit der Zeit werden immer mehr Lebensmittel als ungesund eingestuft und gemieden.
Am Ende bleiben nur noch wenige „gesunde“ Nahrungsmittel kombiniert mit Geboten zur Zubereitung und die stundenlange Beschäftigung mit der eigenen Ernährung. Zeit für soziale Kontakte, reguläre Arbeit und Spontanität weichen der sozialen Isolation.
Depressionen und Nährstoffmangel gefährden die physische und psychische Gesundheit der von Orthorexie betroffenen Personen.
Orthorexie: Die Gesundheitsfalle
Gekeimte Quinoasamen zum Frühstück, eine salzarme grüne Smoothie-Bowle zum Mittag und zum Abendessen gibt es den erfüllenden Gedanken mit mehrstündigen Fasten die Gesundheit zu boostern und die Leistung zu optimieren.
„Gesunde“ Ernährung ist in. Facebook, Instagramm und Co. sind voll mit Versprechen durch diese und jene Diät glücklich zu werden. Zeitgleich wird mit dramatischen Worten vor den Risiken der als ungesund eingestuften Lebensmitteln und Substanzen gewarnt: „Fruchtzucker führt geradewegs in eine Leberverfettung“, „Kohlenhydrate sind Gift für deine schlanke Linie“, „Glutamat ist eine Droge und führt zu einem unkontrollierbaren Fressanfall“….
Eine ausgewogene Ernährung, die sich an deinen individuellen Bedürfnissen orientiert, ist eine entscheidende Grundlage für deine Gesundheit. Aber es gibt auch eine Schattenseite.
Wenn die Gedanken zu gesunden Lebensmitteln zur Obsession werden, riskierts du deine Gesundheit.
Die Geburtsstunde der Orthorexie
Der Begriff Orthorexie wurde 1997 erstmals durch den amerikanischen Arzt Steven Bratman für ein Krankheitsbild verwendet, bei den Betroffene unter der exzessiven Beschäftigung mit ihrer Ernährung, selbstauferlegten rigiden Essensregeln und einer pathologischen Angst vor als ungesund eingestuften Lebensmitteln leiden. Bratman der angibt selbst jahrelang unter seiner speziellen Diät und der Fixierung auf gesunde Lebensmittel gelitten zu haben, setzte die griechischen Worte „orthos“ (richtig) und „orexis“ (Appetit) zusammen, um eine Definition für sein Leiden zu haben.
Orthorexie, eine Krankheit?
Orthorexia nervosa ist bis dato (noch) nicht als eigenständiges Krankheitsbild in den gängigen internationalen Klassifikationssystemen für geistige und körperliche Störungen aufgenommen.
In der Praxis erkennen viele Expert*innen in Deutschland Orthorexie nicht als eigenständige Krankheit an. Vermehrt wird Orthorexie als Symptom bei einer Magersucht beschrieben. In einigen Fachzentren für Essstörungen gibt es allerdings verweise auf die schweren Folgen der krankhaften Fixierung auf vermeintlich gesunde Lebensmittel. Auch in den Medien gibt es immer wieder Berichte über Betroffene.
Theorie und Praxis
Unabhängig ob Orthorexie als offizielles Störungsbild in dicken Medizinlexika anerkannt ist, reicht ein Blick in unsere reale Umwelt, um zu wissen, dass es ein schmaler Grat zwischen „gesunder“ Ernährung und der krankhaften Fixierung auf ein Healthy Lifestyle ist.
Wo beginnt „gesunde“ Ernährung gefährlich zu werden? Was sind die Folgen? Und wie kann ein Weg zurück in eine ausgeglichene Balance zwischen Gesundheitsbewusstsein und Genuss sein?
Teste Dich
Es gibt unterschiedliche Test, um orthorexiegefährdete Personen zu identifizieren. International wird häufig der Ortho-15-Test genutzt. Naheliegend besteht der Test aus 15 Fragen, die eine krankhafte Beziehung zu gesunder Ernährung aufdecken sollen.
In Deutschland haben wir sogar einen eigenen Test. Die Düsseldorfer Orthorexie Skale. Mit 15 Fragen erfährst du in ein paar Minuten, wie orthorektisch du bist.
Warum dieser und auch die übrigen Test nur mit Einschränkungen zu genießen sind, besonders wenn du dich vegan ernährst, erfährst du in kürze in einem gesonderten Artikel.
Im Durchschnitt leiden laut Test zwischen 1 bis 3 Prozent der Bevölkerung unter Orthorexie.
Anleitung:
Antworte spontan auf die Fragen. Notiere dir deine Punktezahl. Am Ende des Test findest du die Auswertung.
(Leider reichen meine technischen Fähigkeiten nicht für eine automatische Auswertung. Also: Zettel und Stift rausholen oder alle Punkte im Kopf zusammenzählen.)
Orthorexie Inside
Im Mittelpunkt steht klar die stundenlange Beschäftigung mit der eigenen Ernährung. Mahlzeiten werden im Voraus genaustens geplant und oftmals aufwendig zubereitet.
Eine endlose Suche nach noch gesünderen Lebensmitteln erfordert zeitintensive Recherchen. Bücher, soziale Medien und esoterisch argumentierende Webseiten werden wie besessen nach noch mehr Informationen zu gesunden und krankmachenden Lebensmitteln durchforstet.
Eine kontinuierlich wachsende Zahl „ungesunder“ Lebensmittel wird aus dem Speiseplan gestrichen.
Es entsteht eine pathologische Angst vor Lebensmittelzusatzstoffen, Rückständen von Pflanzenschutzmitteln und ähnliches, sowie vor bestimmten Makronährstoffen wie Kohlenhydraten und Fetten.
Eingekauft wird nur noch ökologisch frische Ware. Ein etwas welker Salatkopf oder konventionell erzeugte Tomaten sind keine Option.
Es entstehen unzählige eigene Essensregeln, die bestimmen was, wann und wie gegessen werden darf. Beispielsweise dürfen bestimmte Lebensmittel nur in Kombination gegessen werden. Die Nahrungsmittel erhalten feste Tageszeiten, zu denen sie „am besten wirken“. Nicht selten werden nur noch als ungiftig eigestuftes Koch- und Essgeschirr verwendet…
Einher mit der Planung und Zubereitung der Mahlzeiten gehen Rituale, die zunehmend den Alltag strukturieren und Spontanität ebenso wie Intuition den Raum nehmen. Neben der Auswahl der Speisen und dem Ablauf der Zubereitung müssen der Zeitpunkt des Essens und anschließende Aktivitäten exakt den vorausgegangenen Vorstellungen entsprechen.
Essen ist nicht länger Genuss. Lebensmittel werden willkürlich eingeteilt in Gut und Böse. Wenige ausgewählte ökologische erzeugte frische Produkte werden als Schutz vor Krankheit und Alter gegessen. Die ungesunden Lebensmittel werden in der Angst vor Krankheiten konsequent gemieden.
Die Einhaltung der eigenen Diätregeln bestimmt über den Selbstwert.
Waren nur „gesunde“ Lebensmittel auf dem Teller und alles hat nach Plan funktioniert, sind stolz und ein Überlegenheitsgefühl die Belohnung. Passt es an einem Tag nicht, weil Leben sich nicht vorausplanen lässt, folgen strafende Gedanken an die eigene Unfähigkeit verbunden mit der Angst, durch die „Ernährungsfehler“ die eigene Gesundheit zu riskieren.
Orthorexie Outside
Betroffene zeigen sich nach außen oft als vermeintliche Expert*innen für gesunde Ernährung. Anfangs sind sie so überzeugt von ihrer Ernährungsweise, dass sie nicht selten versuchen, Freunde und Familie zu „bekehren“. Mit der Zeit isolieren sie sich aber immer stärker, da ein soziales Leben nicht in ihren strikten Ernährungsplan passt. Café und Restaurantbesuche werden undenkbar. Aktivitäten müssen in den kurzen Zeiträumen zwischen den geplanten Mahlzeiten passen.
Mit zunehmender Lebensmitteleinschränkung fällt auch häufig das Gewicht. Auf Dauer werden Symptome von Energie- und Nährstoffmängeln sichtbar. Die Haare werden spröde und fallen aus, die Haut verliert ihren Glanz und die Nerven werden schwächer. Betroffene reagieren zunehmend aggressiver auf Kommentare zu ihrer Ernährung und vermeiden soziale Interaktionen ab einem gewissen Zeitpunkt fast vollständig, um sich voll und ganz auf ihre gesunde Ernährung konzentrieren zu können.
Aber gesunde Ernährung ist doch wichtig, oder?
Regionale, saisonale, frische und möglichst natürliche Lebensmittel einzukaufen klingt erstmals nicht ungesund. Die eigenen Mahlzeiten etwas im Voraus zu planen, kann im Alltag wirkliche Erleichterung verschaffen. Sich von roten Fleisch und überzuckerten Milchprodukten fernzuhalten ist sowohl für die Gesundheit wie auch die Umwelt und die Tiere eine gute Idee. Die Gefahr lauert in den fließenden Übergang ins Extreme. Verunsichert durch pseudowissenschaftliche Behauptungen selbsternannter Ernährungsexperten wird das Essen zunehmend eingeschränkt. Von soja-, gluten-, zucker- und fettfrei bis hin zu paleo-veganer histaminarmer Rohkost aus dem eigenem Garten. Mit verehrenden Folgen.
Die ungesunden Folgen gesunder Ernährung
Wie bereits erwähnt, führt die exzessive Beschäftigung mit der eigenen Ernährung in Kombination mit minutengenauen Zeitplänen und religiös anmutenden Essensritualen zu einer starken Isolation der Betroffenen.
Einer normalen Arbeit kann im fortgeschrittenen Stadium alleine aus Zeitgründen nicht mehr nachgegangen werden.
Energie- und Nährstoffmängel sind praktisch vorprogrammiert, wenn frisch gepresster Bio-Selleriesaft, gekeimte Amaranthsamen und Brokkolisprossen als einzige Nahrungsmittel noch erlaubt sind.
Untergewicht und unzureichende Vitamin- und Mineralstoffversorgung führt zu Hormonstörungen, einem geschwächten Immunsystem, Osteoporose, Libidoverlust, Unfruchtbarkeit, Herz-Lungenstörungen, Nierenschäden…
Als Resultat des Nährstoffmangels in Zusammenarbeit mit der starke sozialen Isolation drohen schwere Depressionen, die im einem Teufelskreis zu weiteren Ernährungsbeschränkungen führen.
Eine besondere Gefahr besteht zudem für Kinder von Betroffenen.
Ursachen für Orthorexie
Wie bei anderen Essstörung gibt es nicht die Eine Ursache.
Fachleute diskutieren unter anderem über eine genetische Veranlagung, da Personen aus Familien mit Essstörungen häufiger erkranken. Zudem können traumatische Erfahrungen in der Kindheit zu einem gestörten Essverhalten führen.
Oftmals weisen die Betroffenen weitere zwanghafte Persönlichkeitsmerkmale wie auf.
Auch Umweltfaktoren wie Job, Nutzung sozialer Medien, Freunde… scheinen einen großen Einfluss zu haben.
Als besonders gefährdet gelten Personen in Gesundheitsberufen, Balletttänzer*innen, Personal Trainer und Influencer*innen.
Frauen sind anders wie bei anderen Essstörungen nur geringfügig häufiger betroffen.
Klar ist, dass die Mentalität einer Leistungsgesellschaft und die Forderung nach Selbstoptimierung übertragen durch die sozialen Medien, einen großen Einfluss auf die Entstehung von Essstörungen haben.
Orthorexie – doch nur ein Symptom der Magersucht?
In Untersuchungen zeigten verständlicherweise Personen mit Magersucht und Bulimie stark orthorektisch Verhaltensweisen. Stellt sich die Frage, ob Orthorexie nicht doch nur eine Möglichkeit für Magersüchtige und Bulimiker*innen ist, ihre Nahrungsauswahl zu kontrollieren und einzuschränken.
Die Verbindungen sind klar sichtbar, aber bei der Orthorexie steht die Qualität und nicht die Quantität im Vordergrund. Eine magersüchtige Person trinkt literweise Cola-Light, um den quälenden Hunger zumindest für einige Minuten zu überdecken. Für eine orthorektische Person wären Cola durch die enthaltenen Zusatzstoffe undenkbar zu trinken.
Bei Orthorexie steht zudem nicht der Gewichtsverlust im Fokus, sondern ist mehr eine (unbeabsichtigte) Folge der Lebensmittelrestrektionen. Außerdem scheinen orthorektische Menschen nicht unter einer gestörter Körperwahrnehmung zu leiden. Magersüchtige und Bulimiker*innen empfinden sich hingegen unabhängig ihres (Unter)Gewichtes als zu dick.
Von der Orthorexie in die Magersucht und zurück
Bei der Orthorexie geht es zwar vordergründig nicht (nur) ums abnehmen, dennoch besteht eine erhebliche Gefahr durch die starke Lebensmittelrestrektion in eine andere Essstörung „zu rutschen“.
Geraten orthorektisch Personen durch ihre eingeschränkte Ernährung ins Untergewicht, kann das zu Veränderungen im Hormonhaushalt und im Gehirn führen. Als Folge können entweder Heißhungerattacken auftreten, die sich zu einer Bulimie oder Bing Eating entwickeln oder es kommt zu Magersucht.
Magersucht wird unter anderem durch die Gene beeinflusst. Es gibt praktisch so etwas wie Magersuchtsgene. Geraten Frauen und Männer mit entsprechenden Genen ins Untergewicht, werden diese Gene automatisch angeschaltet.
Auf der anderen Seite besteht das Risiko, dass Essgestörte in ihren Genesungsversuch den Wunsch entwickeln, nach allem was sie ihren Körper mit ihrer Krankheit angetan haben, ihn besonders zu schützen. Um das zu erreichen werden nur noch vollwertige, besonders gesunde Lebensmittel konsumiert. Zudem vermittelt der Griff zu Selleriestange und Spinat-Smoothie die Sicherheit noch alles unter Kontrolle zu haben und nicht „dick zu werden“. Von einem befreiten und Genussvollen Leben sind Betroffene damit aber weiterhin entfernt.
Zurück zu „normalen“ Essverhalten
Ohne einen seitenlangen Essay über den Begriff der Normalität zu schreiben ist klar, dass es nicht das eine Normal gibt. Ernährung ist sehr individuell. Was dir schmeckt, was dein Körper gerade an Nahrung braucht und wie viel, steht in keinem Buch und lässt sich durch keine App berechnen.
Sich ausgewogen zu ernähren und frische, möglichst regionale und saisonale Lebensmittel zu bevorzugen, ist natürlich eine gute Idee. Regelmäßig Obst und Gemüse zu essen auch. Aber wenn du Hunger auf einen veganen Döner hast, Sojapudding oder Kekse, braucht das dein Körper und deine Seele gerade in diesem Moment. Es kommt selbstverständlich auf die Menge und die Häufigkeit an. Dafür musst du nicht täglich deine Mikro- und Makronährstoffe berechnen oder dich zu einem Gerstengrassaft als Frühstück zwingen. Höre auf dein Körper. Nimm bewusst wahr, welche Lebensmittel dir schmecken und wähle deine Mahlzeiten nicht nach gesundheitswert, sondern nach Genuss aus.

Therapie
Da Orthorexie noch nicht als eigenständige Erkrankung gesehen wird, sind die spezialisierten Behandlungsmethoden eingeschränkt. Der erste Schritt ist natürlich die Wahrnehmung durch das eigene Essverhalten die Gesundheit zu gefährden und sich sozial zu isolieren.
Angehörige sollten Betroffene in ihren Sorgen ernst nehmen und gemeinsam nach professioneller Unterstützung suchen.
In einer Therapie können die eigentlichen Ursachen wie fehlendes Selbstbewusstsein, Traumata und Schuldgefühle besprochen werden. Schrittweise werden negative Glaubenssätze aufgelöst und alternative Verhaltensmuster aufgebaut. Das Ziel ist nicht nur das Essverhalten zu „normalisieren“. Eine langfristige Heilung von orthorektischen Störungen ist nur möglich, wenn Betroffene lernen sich selbst zu akzeptieren, ihren Wert unabhängig von Leistungen zu betrachten und alternative Strategien zum Umgang mit Problemen erlernen.
Fazit
Orthorexie ist bis dato offiziell zwar noch nicht als eigenständige Erkrankung anerkannt, dennoch sind die Folgen extrem gefährlich. Sowohl psychisch wie auch körperlich bewegen sich die Betroffenen an der Grenze zum Abgrund und riskieren langfristige Gesundheitsschäden sowie soziale Isolation und Depressionen. Der Übergang in eine andere Essstörung ist extrem schmal.
Wie bei anderen Essstörungen ist das Essen nur ein Symptom. Der Weg der Heilung führt daher nicht nur über die Veränderung des Essverhaltens. Betroffene müssen lernen, sich selbst anzunehmen, ihren Wert nicht an Äußerlichkeiten festzumachen und genussvoll das Leben mit allen Höhen und Tiefen zu bejahen.
Bemerkst du selber bei dir orthorektische Essverhalten und fühlst dich durch deine Ernährung zunehmend eingeschränkt? Steht bei dir Gesundheit immer vor Genuss?
Rede mit deinen Freunden oder deiner Familie über deine Sorgen. Gemeinsam oder alleine ist er nächste Schritt, sich professionelle Unterstützung zu suchen. Adressen findest du in diesem Artikel.
Gerne kannst du dich auch bei mir melden und wir schauen zusammen, wie du deinen Weg zurück in ein genussvolles und befreites Leben gehen kannst.